Dushan-Wegner

30.05.2022

Im Übrigen sage ich: Überwachung!

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto von Patrick Hendry
Für einige EU-Funktionäre ergibt sich aus JEDEM Thema: »Überwachung ist super!« – Man will Chats entschlüsseln, dein Handy kann dich denunzieren – die totale Überwachung. Aber alles nur zu deinem Schutz, klar.
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Die Publikation welt.de gibt der Europol-Chefin viel Gelegenheit, ihre aktuellen Talking Points unterzubringen (welt.de, 28.5.2022 (€)). Europol ist die Polizeibehörde der EU. Ihr Sitz ist in Den Haag, also einer Stadt, deren Name für ein Gericht steht, von dem man sagt, dass die, die wirklich vor dieses Gericht gehören, allzu selten davor gestellt werden können.

Die Überschrift überm Interview lautet »Niveau an Gewalt auf europäischen Straßen, wie wir es noch nie gesehen haben«.

Der Teaser schreibt: »Europas Chef-Ermittlerin will verhindern, dass Waffen aus der Ukraine nach dem Krieg von kriminellen Banden in ganz Europa verteilt werden. Lange Zeit hätten die Behörden die Macht der Organisierten Kriminalität unterschätzt.«  (welt.de, 28.5.2022 (€)).

Hinter der Bezahlmauer erfährt man das Angekündigte, nur ausführlich – und dazu eine Erklärung, die so allgegenwärtig und »normal« ist, dass man sie auf den ersten Blick inzwischen überlesen könnte. Wie wird sie es verhindern wollen? Wir haben da so eine Ahnung …

Dur oder Moll?

Am 7. März 2022, im Essay »Die letzte Krise (von der wir erfahren werden)«, schrieb ich in der Einleitung: »Heute liefert man Waffen in die Ukraine, wo es echte Nazi-Gruppen gibt. Was ist eigentlich der westliche Plan für ›danach‹?«

Jetzt spricht die Europol-Chefin aus, was eigentlich vom ersten Moment an als tickende Frage im Raum stand. Die Waffen, die heute geliefert werden, werden nicht alle verschossen oder »danach« ordentlich zurückgegeben werden – dafür müsste man erst definieren, was »danach« überhaupt bedeutet! (Dass man Russland »besiegt«? Dass Putin nicht mehr an der Macht ist? Dass Russland keine Bedrohung mehr darstellt?)

Die Europol-Chefin stellt fest, was von der ersten Sekunde an deutlich war. Ich frage mich, ob ich zum »Nein? Doch! Oh!« einen Akkord in Dur und einige Takte in Moll spielen soll.

Frustrationskompetenz

In der Schule kam ich einst in den Genuss von Unterrichtseinheiten unterm Schlagwort »Medienkompetenz«. Das war kurz vorm WWW, damals las man noch Meldungen auf Totholz. Heute lernt man, was ich so mitbekomme, dass der Staatsfunk kein Staatsfunk ist und doch die Wahrheit sagt – und dass alles andere »Fake News« ist.

Eine sehr wichtige Fähigkeit zur Medienkompetenz wurde uns schon damals nicht beigebracht, und heute lernt man sie noch weniger.

Wir – und mit »wir« meine ich zuerst mich – wir brauchen mehr mediale Frustrationstoleranz.

Es ist frustrierend, vorab zu sehen, was auf uns zukommt – und doch nichts dran ändern zu können. Es wäre auf die eine Art gefährlich, sich vollständig aus dem Nachrichtenstrom auszuklinken – und auf eine andere Art wäre es gefährlich, im Mahlstrom täglicher Apokalypse mit in die Tiefe gerissen zu werden.

»Wir haben die Gefahr unterschätzt«

Die Europol-Chefin hat aber auch »gute« Nachrichten. Durch die Entschlüsselung einer App namens »EnchroChat« (siehe Wikipedia) habe man jüngst »ganz neue Erkenntnisse darüber erlangt, wie Organisierte Kriminalität die Sicherheit in Europa, die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie gefährdet. Und unser Fazit ist: Wir haben die Gefahr unterschätzt.« (welt.de, 28.5.2022 (€)) (Juristen sind sich übrigens nicht einig darin, ob bei den Verfahren nach dem EnchroChat-Hack alles datenschutzrechtlich einwandfrei ablief, siehe etwa community.beck.de, 16.1.2022.)

Wir sind es leid, bald täglich zu hören, was Politiker und Funktionäre alles »unterschätzt« haben. Wer organisierte Kriminalität »live« erleben will, der könnte einfach mal auf dem einen oder anderen öffentlichen Platz gucken, was die herumstehenden Herren da als kleine Päckchen anbieten, und höflich anfragen, wer sie beliefert.

System der Kontrolle

Das Interview beginnt mit dem Ukraine-Krieg als Aufhänger, doch bald ist die Rede von schlimmer Erpressung und kolumbianischen Banden, die in der EU operieren. Ja, sehr ärgerlich. Was will die Europol-Chefin uns aber eigentlich sagen? Warum erzählt sie uns von dem Horror? – Ach, da ist die Antwort wohl schon: »Alles das ließ sich durch die Entschlüsselung von Chatnachrichten nachverfolgen.«

Diese Aussage ist nicht zufällig. EU-Funktionäre ärgern sich schon länger über verschlüsselte Chats – Grundrechte-Fans ärgern sich dafür schon länger über die Überwachungs-Vorhaben der EU.

netzpolitik.org, 13.5.2022 erklärt: »Warum die Chatkontrolle Grundrechte bedroht«: »Die EU-Kommission will Handys in Alarmanlagen für Darstellungen sexueller Gewalt verwandeln. Das gilt auch für Laptops und andere Geräte. Geplant ist ein System der Kontrolle und Durchsuchung von Kommunikationsinhalten.«

Das scheinbar alltägliche Interview mit der Europol-Chefin ließe sich auch als Propagandastück deuten. Die perfide insinuierte Botschaft: »Wer nicht für Chatkontrolle ist, der ist für all diese schlimmen Dinge!«

Politiker, die ihre eigenen Handy-Nachrichten löschen (lassen?) und dem Untersuchungsausschuss (und damit der Demokratie) diesebezüglich de facto den Stinkefinger zeigen, drohen dir implizit: »Du hast doch nichts zu verbergen, oder? Oder?!«

Heute wollen sie die schlimmen Banden überwachen (die mit Waffen operieren werden, die wir ihnen gaben). Morgen können sie dieselben digitalen Werkzeuge verwenden, um unsere vermeintliche »Hassrede« zu verfolgen, und mit »Hassrede« meinen sie vermutlich die Kritik daran, dass diese Banden überhaupt so einfach ins Land kommen können.

Onkeltyp Politiker

Manche Firma und mancher Freundeskreis haben diesen einen »Onkeltypen«, für den aus wohl psychologischen Gründen alle Themen im Sexuellen münden. Ob es gerade um Autos, Achterbahnen oder Arbeitsplätze, diesem Typen »gelingt« es immer irgendwie, eine sexuelle Anspielung zu platzieren. Küchenpsychologisch darf man annehmen, dass dieser »Onkeltyp« innere Zustände kompensiert oder schlicht offenlegt.

EU-Politiker, ob unter Juncker oder unter »Zensursula«, scheinen nicht selten ähnlich veranlagt zu sein, nur eben Überwachung betreffend. Es ist ein bemerkenswertes Kunststück gewisser EUPolitikern, mit jedem politischen Thema nahezulegen, dass Überwachung super und Privatsphäre potenziell gefährlich ist. »Überwachung rettet« ist das neue »Ceterum Censeo«!

Das Interview beginnt mit dieser Frage: »Wie beeinflusst der Krieg in der Ukraine die europäische Sicherheit?«

Es hätte auch mit »Wie ist das Wetter bei Ihnen daheim?« beginnen können, oder einfach nur mit: »Wie geht’s?« – Die Meinung eines EU-Funktionärs wird heute regelmäßig in der einen Aussage münden: »Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Entschlüsselung von Chats wichtig ist!«

Och, nee …

Ich werde nie vergessen, wie meine Tochter als kleines Mädchen einmal den Erlkönig hörte (ich erwähnte es 2018), ob des Endes dann »Och, nee!« rief und in Tränen ausbrach.

Mir selbst geht es gerade so ähnlich, wenn auch ohne die Tränen. Ich erwische mich selbst dabei, mich in politische Debatten verwickelt zu haben, und sei es eine Debatte mit mir selbst. – Och, nee!

Ich will meine Frustrationskompetenz stärken. Ich nehme sehr genau zur Kenntnis, was passiert. Ich frage mich täglich, was diese Ereignisse für uns »Normalsterbliche« bedeuten.

Wir wissen, was diese Leute sagen werden. Wir werden wieder und wieder hören, wie sie die Lage »unterschätzt« haben. Und dass Überwachung wichtig ist, und alternativlos, denn Privatsphäre für alle Bürger bedeutet auch Privatsphäre für Kriminelle.

Ich will zum Besseren ändern, was ich zum Besseren ändern kann – und bei den übrigen Angelegenheiten versuche ich zu erahnen, was danach kommt. Anders als Politiker kann ich es mir kaum leisten, die Entwicklungen allzu oft zu »unterschätzen«.

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